KRÖPELINER-TOR-VORSTADT. Der deutsche Film. Das klingt so nach ›Zweiohrküken‹ und solchem Zeug. Der deutsche Film hat jedoch die Entstehung des neuen Mediums bewegter Bilder entscheidend flankiert, als es eine Film-Industrie und Städte des Films noch nicht gab. Da fehlte noch die Farbe, da fehlte der Ton. Diese Filme sind als Kunstwerke erkennbar.
Natürlich fehlt so etwas im deutschen Fernsehen, was deutlich macht, dass der deutsche Film und das ›deutsche‹ Fernsehen nur eine Scheinehe eingegangen sind. Fernsehen, das bleibt meist nur Propagandaapparat. Der Stummfilm ist für das Verständnis moderner europäischer Kultur als Ganzes unerlässlich — nicht zuletzt es fehlt zu häufig der Ort, diese Filme zu zeigen. In den Museen hängen Bilder, dabei wäre das die passende Lokalität, regelmäßig und immer wieder Stummfilme aufzuführen: ›Die Reise zum Mond‹ von 1902 zum Beispiel, in dem zipfelmützige, französische Wissenschaftler eine Rakete bauen und auf dem Mond von einem Stamm Wilder verfolgt werden. Die Filme von Sergej Eisenstein. Der große Regisseur, den wir haben, das ist Fritz Lang. ›Metropolis‹ von ihm kam 1927 in die Filmpaläste, den muss man immer wieder sehen. Aber auch die anderen Filme von ihm: ›M‹, ›Die Nibelungen‹, ›Dr. Mabuse‹. Diese Filme reihen sich in eine Kunstgeschichte ein, die uns betrifft, weil sie eine Zeit darstellt, aus der die Welt in der wir leben direkt gewachsen ist.
Stummfilme sind — entgegen allgemeiner Ansicht — nicht ›stumm‹. Sie enthalten häufig eine eigene Partitur, manchmal für Orchester, manchmal auch oder nur für Klavier. Wenn es keine spezielle Partitur gab, spielte man auch bestimmte musikalische Formeln (dramatisch, romantisch, schnell, und so weiter) auf dem Klavier mit. Das passte irgendwie. Das bedeutet, dass schon der frühe Film ein Treibhaus der Musik war, zu der man eigentlich nicht tanzt. Selbst wer nicht so gern in ein klassisches Konzert geht, kennt den Soundtrack von Star Wars oder Indiana Jones. Die Star-Trek-Fanfare. Das ist unsere klassische Musik. Auch elektronische Musik wie in Matrix oder Tron führt diese Tradition fort. Bei einer Veranstaltung für elektronische Musik wurde Metropolis in einem großen goldenen Bilderrahmen gezeigt. Das ist ein gewisses Stubnitz-Gefühl: Der Film kann auch Soundtrack der Musik sein. Glücklicherweise gibt es einen gewissen Hunger auf diese Filme. Und insbesondere in einer jungen europäischen Kulturszene begleitet von großem Respekt vor der künstlerischen Leistung als Ganzes.
In Rostock gab es schon ein paar Mal Stummfilm-Aufführungen. In der Nikolaikirche zum Beispiel. Musikalisch hatte man da versucht, sich der Originalpartitur zu näher. Orgeln machen sich dafür sehr gut. Gestern wurde im Peter-Weiß-Haus ein Film gezeigt, den man in dieser Form wohl nicht so oft sehen wird. Ein Cinema-Concert der Franzosen von ›We Insist!‹ Sie vertonten mit ihrer eigenen Musik einen Film von Walter Ruttmann. ›Berlin. Die Sinfonie der Großstadt‹. Nicht nur das Erscheinungsjahr 1927 macht die Verwandtschaft zu Fritz Lang unübersehbar. Eine Dokumentation, die nicht verwechselt werden darf mit den heutigen, schon im Wort reduzierten ›Dokus‹. Das ist eine künstlerische Abbildung vom Berlin der 1920er Jahre im naturalistischen Sekundenstil. Szene auf Szene: Strommasten, mechanische Details eines Zuges, Ventile aus denen es hervorspritzt, dann dampft, sehr menschliche Kinderszenen, die Rede eines Arbeiters, der Selbstmord einer Frau, Schaulustige, Geschäftstreiben, Restaurants, Bettler, Hindenburg, eine Parade, eine Schlägerei, das Nachtleben: da steht Berlin ganz nackt. Immer wieder muss man schmunzeln oder ist erschrocken oder erregt. Die Vertonung von We Insist! mit ihrem Jazz- und Math-Rock ist phänomenal. Das Liveerlebnis atemberaubend. Man erlebt die Atmosphäre der 20er Jahre scheinbar physisch, bekommt den Druck und die Gewalt dieser Zeit gegen den Körper gepresst und geschleudert. Durch die Vertonung bekommt der Film eine Evidenz, also eine Unmittelbarkeit, gegen welche eine 3D-Brille auf die brutalste Weise lächerlich erscheint.
Solche Veranstaltungen machen das Peter-Weiß-Haus zu einem der zentralen kulturellen Orte in Rostock, wofür man nicht dankbar genug sein kann. Was die veranstalten muss man unbedingt im Auge behalten.