In Deutschland und Frankreich führen zwei politische Sachbücher die Bestsellerlisten an, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Das lädt zu unberechtigten Schnellschlüssen ein. Da haben wir zum einen Thilo Sarrazins sozialdarwinistisches Manifest ›Deutschland schafft sich ab‹, das dank gehörigen Presserummels inzwischen mit einer Auflage von 1.2 Millionen Exemplaren laut SZ zu 69% ›an den Mann‹ gebracht wird. Zum anderen Stéphane Hessels ›Indignez-Vous!‹ (Empört Euch!), von dem 900.000 Stück zum Verkauf ausliegen.
Darin forderte der 93-jährige ehemalige Résistance-Kämpfer seine Mitbürger zu Engagement gegen Abschiebungen, Sozialabbau und Medienmogule auf. Da schlägt das Herz links gleich etwas schneller und nicht nur Politologe Jakob Augstein stellt sich auf Spiegel Online beschämt die Frage, warum in Frankreich ein Buch der Hoffnung und in Deutschland ein Buch der Niedertracht die Medienlandschaft bestimme.
Grund gibt es tatsächlich genug, sich für die derartige Popularität des Sarrazinschen Werkes zu schämen, dass trotz wissenschaftlichen Anstrichs und gekonnter Inszenierung nicht viel mehr als lauwarmen Biologismus bietet. Es ist in der Tat erschreckend, wie viele Mitmenschen sich in diesen Thesen wiederfinden und was laut einigen in unserer Gesellschaft scheinbar ›doch wohl mal gesagt werden muss.‹
Im Umkehrschluss sollte allerdings nicht reflexhaft das Klischee des aufgeklärten, widerständischen Franzosen bedient werden. Diesem bieten sich mit der menschenrechtswidrigen Behandlung der Roma und sozial katastrophalen Banlieues zwar gute Gründe zur Aufregung, ernsthafte Großdemonstrationen gibt es schlussendlich aber nicht wegen Abschiebungsgesetzen, sondern auf Grund der Erhöhung des Renteneintrittsalters. Auch darf ein Großteil des Bucherfolges neben der moralischen Autorität des KZ-Überlebenden Stéphane Hessel wohl ebenfalls darin gesehen werden, dass sein lesefreundlicher 32-seitiger Aufruf nicht nur an nahezu jedem Kiosk neben der Sonntagszeitung ausliegt, sondern diese auch in Umfang und Preis (3 €) unterbietet. Dass in diesem Format dann konkrete Handlungsvorschläge zu kurz kommen ist weder verwunderlich noch tragisch, wird doch zu recht der eigenverantwortliche Geist des Lesers gefordert.
Ein solcher Denkanstoß würde vermutlich auch in Deutschland auf fruchtbaren Boden stoßen, sollte beispielsweise der im Vergleich zu Hessel gerade einmal 92 Jahre junge Helmut Schmidt nach seiner erfolgreichen Biographie ›Außer Dienst‹ (650.000 Exemplare) noch einmal zur Feder greifen. Es wäre erfreulich. Wenn es also auch nüchtern betrachtet wenig Grund zum sehnsuchtsvollen Blick nach Frankreich gibt, so ist die Reaktion nach der leidvollen und andauernden Polemik über den deutschen ›Wutbürger‹ nur zu verständlich. Statt diese Emotion als Reaktion der politisch Unreflektierten abzustempeln, schreibt Hessel: »Ich wünsche jedem Einzelnen von Ihnen einen Grund zur Empörung. Das ist sehr wertvoll. Wenn etwas Sie empört, wie mich die Nazis empört haben, werden Sie kämpferisch, stark und engagiert.«
Einen ›Wutbürger‹ im negativen Sinne sollte es bei aufrichtiger Empörung also nicht geben. Im positiven Sinne ist es ein Mensch, der sich durch gesellschaftliche Probleme förmlich zum Handeln gezwungen fühlt. Jemand, bei dem das abwertend benutzte Präfix gestrichen werden kann. Im klassischen Sinne: ein Bürger. Die uns gewünschten Gründe zur Aufregung dürften jedem im tagespolitischen Geschehen zur Genüge begegnen. Darüber sollten wir Bürgerinnen und Bürger uns tatsächlich empören und diese Energie in gesellschaftliches Engagement umwandeln. Nicht weil dies anderswo so viel besser funktioniere, sondern weil wir etwas bewegen können und müssen.
Hier eine englische Übersetzung des Bestsellers von Stéphane Hessel.