Es ist Sonntag, der 30. Januar 2011. Es kehrt langsam Ruhe ein im Synagogenraum in der Augustenstraße 20. Die Reihen sind voll besetzt. Zum feierlichen Wiedereinzug der Thorarolle sind nicht nur Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Rostocks, sondern auch viele Gäste anwesend. Unter anderem der Ministerpräsident Mecklenburg-Vorpommerns, Erwin Sellering, der Oberbürgermeister der Hansestadt, Roland Methling, und der Generalsekretär des Zentralrats der Juden, Stephan Kramer.
»Wozu ist eine Rolle da, als aus ihr vorzulesen«, sagt der Landesrabbiner William Wolff lächelnd zu seiner Gemeinde und zu seinen Gästen, nachdem die neue Thorarolle feierlich in den Raum getragen und aufgerollt wurde. Zum Lächeln hat er allen Grund, denn die vor ihm liegende Rolle ist die erste restaurierte Rostocker Thorarolle. Denn nach der Gründung der Jüdischen Gemeinde im Jahre 1994 konnten keine vollwertigen Gottesdienste abgehalten werden, da die ursprünglichen Rostocker Thorarollen im Laufe der Geschichte zu stark beschädigt worden waren, um sie benutzen zu können. Daher hatte eine Leihgabe der Jüdischen Gemeinde in Aachen das Problem gelöst.
»Im Jahre 2008 jedoch entstand die Idee einer eigenen Thorarolle für die jüdische Gemeinde Rostocks«, erklärt der Vorsitzende der ›Arnold-Bernhard-Stiftung‹ und gleichzeitiges Gemeindemitglied Andy Schümann. So hatten Mitglieder der Jüdischen Gemeinde, Unternehmen in Rostock und auch ein Benefizkonzert der HMT im April 2009 laut dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Rostocks Juri Rosov etwa 10.000 Euro an Spendengeldern eingebracht. »Allerdings reichte die Summe nicht für eine neue Thorarolle aus«, resümiert Schümann, denn eine neue Thorarolle würde etwa 17.000 Euro kosten. Deshalb habe man sich für die Restaurierung der beschädigten, vorhandenen Rollen ausgesprochen.
Doch warum ist eine neue und eigene Rolle für die jüdische Gemeinde so wichtig?
Stephan Kramer vom Zentralrat der Juden erklärt, dass die Thorarolle für jüdisches Leben und für die jüdische Identität steht. Daher sei es eine bedeutende Aufgabe sie zu schützen.
Die Thora (hebräisch: Gesetz, Lehre, Weisung) besteht aus den fünf Büchern Mose (Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri und Deuteronomium) und ist das ›Handbuch der Juden‹, das ›Buch der Bücher‹. In ihr stehen die Grundgebote des Judentums und aus ihr wird während des Gottesdienstes am Sabbat vorgelesen. Der dauert einen ganzen Tag, von Sonnenuntergang am Freitag bis zum Eintritt der Dunkelheit am Samstag.
Der Text wird auf handgefertigtem Pergament aus der Haut ›reiner‹ Tiere geschrieben und auf zwei Holzstäbe aufgewickelt, die von einem speziellen Stoffband umwickelt werden. Zum Schutz der Rolle wird sie mit einem reich bestickten Mantel bedeckt. Jede Gemeinde besitzt mehrere Rollen. Rostock selbst hat zwei Thorarollen, wovon eine aber so stark beschädigt ist, dass sie nicht mehr restauriert werden kann.
Laut Rosov ist die restaurierte Thorarolle etwa 200 Jahre alt. Sie war während der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur nach Dresden gebracht, dort versteckt und vor etwa 15 Jahren an die Juden in Schwerin zurückgegeben worden. Bei der Gründung der Rostocker Gemeinde 1994 kam die Schrift dann nach Rostock.
Erwin Sellering, Ministerpräsident Mecklenburg-Vorpommerns, beschreibt den Einzug der neuen Thorarolle als »Meilenstein in der Entwicklung jüdischen Lebens« und betont die größer werdende Akzeptanz in der Gesellschaft. »Denn die jüdische Gemeinde ist eine Bereicherung für die Gesellschaft. Durch ihre Sicht, ihre Sitten und Gebräuche entsteht Vielfalt.« Und eben diese Vielfalt müsse bewahrt werden, weil sie Mecklenburg-Vorpommern lebendig mache, so der Ministerpräsident.
Auch die Zahlen bestätigen dies. Seit der Gründung der Jüdischen Gemeinde Rostock ist die Mitgliederzahl immer weiter gestiegen — bis heute auf ungefähr 700. Grund für dieses rasante Wachstum sind auch die vielen jüdischen Einwanderer aus Russland, die seit 1990 in das Land kommen. »Die eigene Thorarolle ist ein sichtbares Zeichen für die Gemeinde«, sagt Sellering, sie zeige, dass die Gemeinde wieder ein Zuhause habe, eine geistliche Heimat.
Seit Jahrhunderten Teil der Rostocker Geschichte
Dies jedoch war nicht immer so. Wer aufmerksam durch Rostocks Straßen geht, der sieht überall Zeichen der jüdischen Geschichte. Beginnend bei den Denkmälern und Gedenktafeln im Lindenpark, im Rosengarten oder beim Neuen Friedhof, über die Stele am Eingang der ehemaligen, abgebrannten Synagoge in der Augustenstraße 101 bis zu den mittlerweile 23 Stolpersteinen, die an jüdische Rostocker gedenken.
Doch die jüdische Geschichte beginnt schon viel früher. Schon nach der Stadtgründung im 13. Jahrhundert siedelten sich erste Juden in Rostock an. Sie wurden allerdings beschuldigt den Brunnen vergiftet und somit die Pest über die Stadt hereingebracht zu haben. In Rostock, wie auch in vielen anderen Städten wurden die Juden vertrieben. Erst in der Kaiserzeit siedelten sich wieder Juden in Rostock an, waren integriert und gehörten auch fest zum Stadtbild. 1902 wurde eine Synagoge in der Augustenstraße 101 eingerichtet. Die jüdische Gemeinde zählte zu diesem Zeitpunkt schon bis zu 300 Mitglieder.
Während der Weimarer Republik erlebte die jüdische Gemeinde Rostocks eine Blütezeit, denn mit der Weimarer Verfassung wurden Glaubens- und Gewissensfreiheit ausgesprochen, sowie die Abschaffung der Staatskirche. Die jüdische Bevölkerung, viele Ärzte, Juristen, Lehrer oder Künstler konnte freier und aktiver am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.
Ab 1933 mit dem Nazi-Regime litten die jüdischen Bürger allerdings mehr und mehr unter Antisemitismus, Berufsverboten und Vertreibung. Einen Höhepunkt bildete die Niederbrennung der Rostocker Synagoge am 10. November 1938 im Zuge der Novemberpogrome. Die meisten jüdischen Gemeindemitglieder flohen ins Ausland. Viele allerdings wurden ermordet. 1944 gab es keine Jüdische Gemeinde mehr in Rostock.
Nach der Gründung der BRD und der DDR 1945 lebten die meisten Juden auf dem Gebiet der BRD, wo sich sehr bald ein jüdisches Gemeinwesen bildete. In Norddeutschland und damit auch in Rostock dauerte es länger. Erst 1948 gründete sich eine jüdische Gemeinde in Schwerin, die aber zuständig für ganz Mecklenburg-Vorpommern war. In Rostock gab es kein Gemeindewesen, da einerseits die Stadt kein Geld für den Kauf des Grundstücks in der Augustenstraße 101 hatte und andererseits viele jüdische Bürger nach Westen auswanderten oder starben.
Erst mit der Wiedervereinigung begann auch die Stadt Rostock sich für die Förderung der Jüdischen Gemeinde einzusetzen. Am 24. April 1994 wurde die jüdische Landesgemeinde Mecklenburg-Vorpommern in die Gemeinden Rostock und Schwerin geteilt. 1996 konnte die Jüdische Gemeinde das Haus am Wilhelm-Külz-Platz 6 mithilfe des Zentralrates der Juden in Deutschland beziehen. Im Jahre 2004 feierte die Gemeinde ihr zehnjähriges Bestehen und zog in die Augustenstraße 20 ein, nur wenige Meter vom Standpunkt der ehemaligen Synagoge entfernt.
Weitere Informationen zum jüdischen Gemeindeleben:
• www.juden-in-rostock.de
• www.synagoge-rostock.de