ROSTOCK. Am Samstag war die Theaterpremiere von Effi Briest. Theater war jedoch nicht zu sehen. Wie also eine Rezension schreiben?
Bedingt durch die Schließung des Großen Hauses als Hauptspielstätte des Volkstheaters, konnte die geplante ›Effi Briest‹ zwar in diesem Gebäude aufgeführt werden, jedoch ohne anwesendes Publikum. Statt dessen wurde das Stück im Internet gestreamt. Man schaut das Stück also am Monitor, während man es, so live es eben geht, herunterlädt. Das ist dann kein Theater, das ist so etwas wie Fernsehen. Zum Beispiel in der Anderen Buchhandlung oder im MAU-Club im Stadthafen wurde dieser Stream zum Event und so einige kamen, sich das Stück auf der Leinwand anzusehen. Im MAU waren es wohl bis zu 400. Montag Nachmittag hatte das Theater die Zuschauerzahlen analysiert und sprach von 10.000 Nutzern, welche das Bühnengeschehen über lange Strecken über das Internet verfolgten. Über die Hälfte davon aus Mecklenburg-Vorpommern, etwa 10 Prozent aus Berlin/Brandenburg und der Rest verteilte sich auch auf andere, westliche Länder. Insgesamt 50.000 Nutzer griffen im Laufe der Vorstellung auf die Webseite des Volkstheaters zu. Technisch hat das auch sehr gut funktioniert. Es gab im MAU-Club nur wenige Stellen, die mal kurz still standen. Doch angesichts der Bild- und Tonqualität war das mehr als erträglich. Zumindest als Nachweis eines breiten, auch jungen ›theatralischen‹ Interesses war dieses Event sehr sinnvoll.
Aus dem Theater hieß es: »Als Premiere der zehntausenden geht damit diese ›Effi Briest‹ in die Aufführungsgeschichte des Rostocker Volkstheaters ein.« Und das ist richtig. Was aber erzählt uns diese Geschichte. Sie erzählt uns vom Menschen als Notwesen. Davon, dass man in Ausnahmesituationen, wie nun der Abwesenheit einer großen Spielstätte, die konservativen Schranken öffnet, da sie nun offensichtlich nicht um ihrer selbst bestehen, und dass man den jungen, kreativen Ideen den Zugang zur Spitze der Pyramide vereinfacht. Selbst denen, die sich nicht in den geschlossenen Zirkeln befinden. Die Erfahrung zeigt, dass sich diese Schranken wieder schließen, sobald Sicherheit eintritt. Sobald also ein relevanter Besitz besteht, muss dieser unbedingt bewahrt werden. Und dieser Besitz kann eben auch aus einem (durchschnittlich) überalterten Publikum bestehen. Das Neue erscheint als Bedrohung und wird verhindert. Das ist das Großartige an der Krise: Die innovative Dynamik in der Veränderung von Machtverhältnissen. Die Verantwortlichen werden zu Kommentatoren und partizipieren nur noch am Geschehen, wie bei Effi in der Halbzeitpause.
Ein Blick auf die aktuellen Landtagswahlen genügt, um auf Bestätigung zu stoßen. Eine korrigierter Atomausstieg, eine atomares Drama am Pazifik und die Grünen erhalten parlamentarische Macht, an die vorher in der Form nicht zu denken war. Doch das genügt eben auch nicht, denn andere, nachhaltige gesellschaftlichen Probleme scheinen in der Öffentlichkeit noch kein Krisenbewusstsein zu erzeugen, das zu Lösungen führt. Der erstochene Privatisierungswahn der Städte und Gemeinden; quasi-demokratische Strukturen, in denen das Volk nicht durch die Parlamente regiert wird, sondern globale Konzerne und deren Lobbies; eine weltweite Finanzkrise, aus der keine relevanten Leeren gezogen wurden; forcierte Liberalisierungsbestrebungen, die in dieser Form aber zur Verarmung und Entmachtung des Mittelstands führen; der Verlust der Kontrolle über die Nahrungsmittelindustrie; die Probleme mit der Pharmaindustrie; die unverantwortliche Macht der Waffenindustrie; das Dummhalten der Menschen selbst durch öffentlich-rechtliche Anstalten; der fahrlässige und irreparable, von Städten und Ländern in Kauf genommene Zersetzungsprozess einer einmaligen Kulturlandschaft; der Mangel an Ethik auf sämtlichen gesellschaftlichen Ebenen.
Was hat das alles mit Effi Briest zu tun? Effi ist der naive Bürger. Sie folgt ihren simplen Bedürfnissen. Das ist zunächst Sicherheit und Wohlstand. In der Folge heiratet sie siebzehnjährig Baron Innstetten. Der Konflikt entsteht, als sie sich vernachlässigt fühlt, zufällig erotisch kompromittiert wird und eine Affaire beginnt mit einem Offizier, der später deswegen im Duell umkommen wird. Effi könnte also nun zur Heldin werden, ein Bewusstsein für soziale Mängel entwickeln. Stattdessen dreht sich alles nur um sie. Sie hatte ja in dieser Zeit die gesellschafts-politischen Probleme direkt vor ihrer Tür: Angestellte ohne soziale Sicherheit, Frauen ohne Wahlrecht, und so weiter, ihre amorösen Sörglein waren daneben ein Luxusproblem höchster Güte. Aber sie hat im Text von Theodor Fontane nie dieses politische Bewusstsein bekommen. Vielleicht auch, weil Fontane gar nicht glaubte, dass Frauen dazu in der Lage wären. Es geht bei ihm um »adlige Protoemanzipation und das Dilemma bürgerlicher Frauenemanzipation im 19. Jahrhundert«, wie Michael Schmidt zutreffend beschreibt. In dieser Zeit war aber politisch wirklich was los. Nicht zuletzt in Deutschland. Während also die Schmiede der Republik qualmt und dröhnt, hat die kleine Effi Angst vor einem toten Chinesen und sucht sich Trost bei einem Hund und einem Charmeur. Das ist vielleicht psychologisch, aber es ist auch banal und eitel. Das genügt dann eben auch nicht. Denn solange sie kein politisch mündiger Bürger ist, wird sie für ihre Persönlichkeitsrechte auch nicht streiten können. Und darum fällt sie auf den Offizier rein. Darum verliert sie ihre soziale Stellung. Darum verliert sie ihr Kind. Darum wird sie am Ende totkrank. Das ist wie mit den Menschen, die nur wegen Fukushima die Grünen wählen.
Nicht nur, dass Effi Briest heute in der Theateradaption aufgeführt wird, ist absurdes Theater. Es ist schon absurd genug, dass Effi Briest als Fontane-Roman noch immer Pflichtlektüre an unseren Schulen ist. Die Buddenbrocks von Thomas Mann würden wenigstens auch die Jungs betreffen. Effi Briest betrifft eben nicht einmal die Lebenswirklichkeit deutsch-sozialisierter Mädchen. Damit reflektiert die Aufführung aber auch die breite gesellschaftliche Blödheit.
Zur Verteidigung der Aufführung: Als Fotografie der Zeit war die Aufführung ganz reizend. Die historische Perspektive war korrekt. Man kann Effi nicht aus ihrer Zeit ziehen, denn es gibt keinen heutigen Boden für sie. Das ist eben kein Problem, das heute ähnlich angelegt wäre. Man kann ihr nur durch starkes, metadiskursives Verbiegen (siehe oben) etwas Gegenwärtiges abringen. Oberflächlich kann man fast nur Positives darüber sagen. Abgesehen davon, dass sie nicht nur was das Medium Internet und die Situation des Streams angeht, mit drei Aufführungsstunden mindestens eine Stunde zu lang angelegt war. Insbesondere, wenn dann nicht einmal ein blutiges Duell zu sehen ist. Das tut dann irgendwann weh. Aber es war ein schönes Bühnenbild, zumindest was man davon sah, es waren auch sehr hübsche Kostüme. Ja und auch die Schauspieler haben dieses dreistündige, publikumslose Monstrum fantastisch bewältigt. Vor allem eine großartige Lisa Flachmeyer als Effi mit bezaubernden Löckchen. Jakob Kratze (Effis Vater) auf der anderen Seite war für mich leider wieder etwas zu aufgesetzt. Andere hatten einen anderen Eindruck. Glücklicherweise ist es immer so.