INNENSTADT / STADTHAFEN. Wenn Mehrheiten die Wahrheit steuern – was ist dann noch Wahrheit, und was ist Lüge? Was ist falsch? Was ist richtig? Der Pöbel als Richter über die Objektivität, ferngesteuert durch wenige tatsächliche Lenker. Wer glaubt, dies seien Zustände, auf die wir hinsteuern, der muss sich bei der Betrachtung von »Ein Volksfeind« wohl eingestehen: »Das haben wir alles schon gesehn – das haben wir alles schon gehabt«.
Eine Rezension zu »Ein Volksfeind« im Theater im Stadhafen von Paul Fleischer
Prolog
Im wie immer sehr gut gestalteten Prgrammheftchen findet sich ein Bild von Ulrich K. Müller. Fast schon sinnbildlich steht als Dr. Thomas Stockmann vor dem Rathaus. »Gegen den kommunalen Sumpf« steht auf seinem Plakat, die Faust in die Luft geballt. Wie metaphorisch dieses Stück auch für die momentane Situation im Theater ist, wird jedem schnell offenbar werden. In einer Pause während der Generalprobe wirkt der Intendant Peter Leonard fast ein wenig erleichtert – Henrik Ibsens »Ein Volksfeind« scheint ihm aus tiefster Seele zu sprechen.
Im Foyer
Eine milde Spätsommernacht macht aus den Gesprächsrunden ein Outdoor-Erlebnis. Welche ein milder September-Abend – man wünscht sich fast eine Aufführung unter freiem Himmel. Vielleicht auf dem Neuen Markt um ganz und gar passend, dem »kommunalen Sumpf« den Spiegel vorzuhalten. Die Premiere ist leider nur fast ausverkauft. Der sein Theater so liebende Oberbürgermeister Roland Methling (parteilos) ließ sich indes leider nicht erblicken. Vielleicht zu brisant!
Das Stück
Dr. Stockmann (Ulrich K. Müller) ist durch seine Anstellung als Badeazt ein angesehenes Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft. Aufgrund eines Verdachts lässt er die Wasserqualität des Badeorts überprüfen und die Ergebnisse sind erschreckend: Das Wasser ist vergiftet – bedroht die Urlauber und die Einwohner.
Schnell will Stockmann die Ergebnisse publik machen, fühlt sich sicher, seiner Heimat einen patriotischen Dienst zu erweisen. Einzig sein Bruder Peter Stockmann (Steffen Schreier), das höchste Tier in der Gemeinde hat etwas dagegen. Er fürchtet um den Guten Ruf seines Badeortes und verbietet seinem Bruder die Veröffentlichung seiner Ergebnisse. Doch dieser, sich der Wahrheit verscheibend, wird nur umso mehr angestachelt. Schnell sind die Verbündeten gefunden. Hovstadt (Jörg Schulze), Redakteur der lokalen Zeitung »Volksbote«, möchte am liebsten gleich Revolution machen und »mal auslüften«, sagt sofort einen Leitartikel zu. Auch Frau Aslaksen (Sonja Hilberger), die »kompakte Majorität« der Kleinbürger repräsentierend, will »maßvoll« gegen das Problem angehen, dabei jedoch möglichst »keine Opposition« eingehen.
Die Mehrheit schein auf der Seite des Doktors. Doch dann beginnt die Wende. Amtsrat Stockmann versucht in konspirativen Gesprächen von den Gefahren, welche eine Veröffentlichung der Ergebnisse in sich birgt, zu warnen. 2,9 Millionen Euro (Achtung: Insiderwitz) könnte die notwendige Sanierung der Wasserleitungen kosten. Und plötzlich drehen sich die Verhältnisse. Alles wendet sich gegen den Doktor, der »Volksbote« will seine Ergebnisse nicht publizieren, die kompakte Majorität fürchtet höhere Steuern und ausbleibende Urlauber. Und so soll alles vertuscht werden, so nimmt die Geschichte seinen Lauf – und aus einem Verkünder der Wahrheit wird schnell der »Volksfeind«.
Kritik
Ulrich K. Müller (spielt den Badearzt) trifft den freigeistigen Charakter fast schon zu perfekt. Die Wahnhaftigkeit, derer er gegen die Intrige ankämpfend fast erliegt, ist vielleicht ein wenig zu viel des Guten. Doch stellt sie gleichzeitig auch eine wahrlich beeindruckende schauspielerische Leistung dar.
Hervorzuheben ist die Leistung von Steffen Schreier, der als Gemeinderat einen absolut authentischen Charakter verkörpert. Er ist die Inkarnation von systemischer Trägheit und Selbstbevorteilung wie sie sich auch heute noch in so manchen politischen Strukturen breit macht. Man kann gar nicht anders, als ihn zu hassen! Er erinnert mit seiner boshaftigen Perfektion und der seiner wohlklingenden Artikulation in bestimmten Szenen sogar an den Meister des Bösen, Sir Anthony Hopkins.
Henrik Ibsens »Ein Volksfeind« ist nicht wirklich die Milchschnitte unter den Inszenierungen – keine leichte Kost. Trotz einiger Slapsticks konnte sich mein Sitznachbar den einen oder anderen Gähner nicht verkneifen. Für die Systemkritiker und Demokratie-Verdrossenen ist das Stück sicher Balsam für die Seele. Und die Auseinandersetzung mit dem Stück, welche vielleicht auch nötig ist, erbringt vielleicht den Beweis, eben nicht dem verteufelten »geistigen Pöbel« anzugehören. Nur Mut!
Der »Volksfeind« ist ein Sinnbild für die Gefahr, die von einer auf Dummheit basierenden Demokratie ausgeht. Somit ist das Stück auch bis heute nicht wirklich in die Jahre gekommen. Auch in Hinblick auf die oligarchischen Prozesse innerhalb der lokalen politischen Administration hat Henrik Ibsens Werk bis heute nichts an seiner Aktualität eingebüßt. Wenn die Wahrheit von der Mehrheit bestimmt wird, dann ist die Wahrheit manchmal auch falsch, doch nur in der »absoluten Hingabe an die Wahrheit liegt mehr oder weniger der einzige Grund unseres Lebens. Die Wahrheit ist die gerechteste Ordnung überhaupt.« Vielleicht sollte man diese Worte Dutschkes immer bei sich tragen. Nur zur Sicherheit.
• Weitere Termine:
6. Oktober um 20.00 Uhr, Theater im Stadthafen – Theatertag (2 für 1)
7. Oktober um 20.00 Uhr, Theater im Stadthafen
16. Oktober um 18.00 Uhr, Theater im Stadthafen
29. Oktober um 20.00 Uhr, Theater im Stadthafen
25. November um 20.00 Uhr, Theater im Stadthafen
26. November um 20.00 Uhr, Theater im Stadthafen